Der Alevitische Glaube blickt in eine sehr alte Zeit zurück. Die Entstehung greift auf monotheisitische Regionen in Kleinasien, Mesopotamien und dem Nahen Osten zurück. Der Mensch als Can (dt. Leben, Seele) steht im Mittelpunkt des Alevitentums.
Die Glaubensrichtung der AlevitInnen definiert den Weg zum „vollkommenen Menschen“. Daher wird der alevitische Glaube auch als „Yol“ (dt. mystischer Pfad) angenommen. Man glaubt an einen „varoluş“ (dt. Existenz). Das geschlechtsneutrale Hakk (varlık), dass die Existenz definiert, schafft alles Existierende aus sich selbst und seiner eigenen Substanz. Die Aufgabe des Menschen ist es, die Natur mit der er eins ist (im Alevitentum Vahdet-i Vücüt), mittels Vernunft und über einen Reifungsprozess (mystischer Pfad) über den Pfad der „Dört Kapı Kırk Makam“ (dt. Vier Tore und Vierzig Instanzen) zu erkennen.
Das Alevitentum unterscheidet keine Seele von Ihrer Sprache, Ethnizität, Glauben oder Geschlecht und ist nicht bemüht Andersgläubige zum Alevitentum zu bekehren. Alle existierenden Religionen und Glaubensgemeinschaften werden erkennt und respektiert alle gleichwertig mit dem ein und demselben Auge (im Alevitentum 72 Millete Bir Nazarda Bak).
Die Glaubensüberlieferung erfolgte über Jahrhunderte hindurch über das orale Transmttieren und lehnt eine orthodoxe Dogmen-Orientierung ab. Nach dem Grundsatz des Heiligen Hünkar Haci Bektasch Veli (13. Jhdt.) ist „das wichtigste Buch, dass zum Lesen ist, der Mensch an sich“.
Die Grundquellen des Alevitentums basieren auf Aussagen und Wertorstellungen des Heiligen Haci Bektasch Veli (13. Jhdt.). Das Buch „Makâlât“ beinhaltet sein Gedankengut und handelt von den humanistischen Wertevorstellungen sowie dem geistigen Reifungsprozess im Alevitentum. Hünkar Haci Bektasch Veli hat das Alevitentum gemäß unserem Selbstverständnis im 13. Jahrhundert reorganisierrt und entscheidend geprägt. Er ist ein bedeutender Pir (dt. Wegbegleiter erster Instanz) und Denker des Alevitentums.
Neben dem Pir Hünkar Haci Bektasch Veli gelten Hagiographien, Katechismen, Sammelwerke und Dichtungen der Yedi Ulu Ozan (dt. Sieben Heilige Poeten) auch zu den Quellen des Alevitentums.
Cem (dt. gemeinschaftliches Glaubensritual)
Das Cem ist die wichtigste Institution im Alevitentum. Es gibt verschiedene Cem, die zu unterschiedlichen Anlässen realisiert werden. Das Cem wird im „Cemevi“ (dt. alevitisches Gebetshaus) und auch in den Meydan Evi (dt. Gebetsräumen) in den Dergah (dt. alevitische Kloster) vollzogen. Die Abhaltung der Cem erfolgt unter der gemeinsamen und gleichwertigen Teilnahme von Frauen du Männern als gleichberechhtigte Can (dt. Seele, Leben, Existenz). Unsere Cem können – im Sinne der Gleichberechtigung der Geschlechter – sowohl von Dedes als auch von Anas geführt werden. (Pir/Rehber/Dede/Ana – dt. geistliche WegweiseInnen)
Die Bestandteile eines Cem
- Ikrar (dt. Initation und Aufnahme in die Gemeinschaft durch Versprechen)
- Oniki Hizmet (dt. Weihung und Verrichtung der 12 Dienste)
- Dar-ı Mansur (dt. Öffentliche Beichte und Streitschlichtung)
- Düşkün Kaldırma (dt. Sanktionierung)
- Rızalık (dt. Einvernehmen)
- Tehvid (dt. Gebet und Vereinigung der Gemeinde) bzw. Miraç (dt. geistige Reise zum Hakk)
- Semah (dt. Ausführen des rituellen Tanzes) in Begleitung der Bağlama, Saz, Tembur (dt. Langhalslaute)
- Lokma/Niyaz (dt. Verteilung des gesegneten Gelöbnismahls) oder des Kurban
- Gülbang (dt. Schlussgebete und Fürbitten)
Müsahiplik (dt. Wahlverwandtschaft, Weggemeinschaft)
Als Zeichen von Geschwisterlichkeit gehen zwei Familien eine Müsahiplik (dt. Bindung) ein. Zwei Ehepaare geben sich ein Ikrar (dt. Gelübde) und schwören, dass sie sich immer und ewig zur Seite stehen werden. Diese Müsahiplik, die zwischen den zwei Familien als weltliches und geistliches Zusammenleben besiegelt wird, bildet den Kern der Gemeinschaft der AlevitInnen der frei-alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Diese Familien leben Solidarität und Harmonie in der Gemeinschaft und symbolisieren der Gemeinschaft, dass nicht nur biologische Brüder und Schwestern, sondern auch geistige Brüder und Schwestern einander nahestehen können. Dies fördert die gegenseitige Unterstützung und soll vor allem Fehlverhalten verhindern, das sich auf dem Weg zu Vervollkommung (Einswerdung mit Hakk, Hakla Hak Olmak) über die „Dört Kapi Kirk Makam“ ergeben könnte. Die Verdienstete bzw. Fehlverhalten beider Familien übernehmen also Verantwortung und Fürsorge füreinander. Weiteres besteht ein unbegrenztes Heiratsverbot zwischen den Kindern und Kindeskindern dieser Familienpaare.
Föderation der Frei-Aleviten Österreich
Die Föderation der Frei-Aleviten Österreich (türkisch: Avusturya Alevi Birlikleri Federasyonu, Abk.: AABF) ist die einzige Dachorganisation der in Österreich lebenden Alevitinnen und Aleviten, die am 06.02.1998 mit Sitz in Wien offiziell gegründet wurde. Sie vertritt inzwischen bundesweit 15 Ortsgemeinden mit insgesamt mehr als … Familienmitgliedschaften.
Zu den originären Aufgabenfeldern der Föderation der AlevitInnen Gemeinden in Österreich gehören u.a.:
- Revitalisierung des Alevitentums in Österreich und in der Türkei
- Verschriftlichung und Veröffentlichung der alevitischen Lehre
- Förderung des interreligiösen Dialogs und der interreligiösen Zusammenarbeit
- Etablierung einer Gedenk- und Erinnerungskultur
- Antidiskriminierung und Menschenrechtsbildung
- Förderung und Bekräftigung einer demokratischen Bewusstseinsbildung
- Professionalisierung & Qualifizierung von Einrichtungen und Organisation der Einwanderungs-gesellschaft
- Förderung des Dialogs und der Zusammenarbeit mit religiösen, kulturellen und ethnischen Gemeinschaften aus der Türkei in der deutschen und europäischen Diaspora
- Sensibilisierungs-, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit
- Integration der AlevitInnen in die österreichische Mehrheitsgesellschaft unter Bewahrung des Alevitentums (z.B. Organisation von Deutschkursen und beruflichen Fortbildungsmaßnahmen, Teilnahme an der Integrationsplattform und Mitarbeit am Expertenbericht des Bundesministeriums für Inneres etc.)
Die Etablierung der alevitischen Glaubenslehre in Lehre und Forschung an österreichischen Universitäten sowie die Anerkennung der AABF als Körperschaft des öffentlichen Rechts sind die bedeutendsten Ziele auf der politischen Agenda des Verbandes.
Die AABF genießt als Vertreterin der in Österreich lebenden AlevitInnen sowohl im Inland als auch im Ausland als Mitglied der Alevitischen Union Europa (=europäischer Dachverband der alevitischen Organisationen in Europa) hohes Ansehen bzw. uneingeschränkte Anerkennung, womit die Legitimation der AABF als gesellschaftlich beglaubigte Vertreterin belegt wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die AlevitInnen schon seit 1989 in Österreich vereinsmäßig organisiert und aktiv sind. Beispielsweise feiern 2012 der „Verein der Alevitischen Kulturgemeinschaft in St. Pölten“ sein 23., der „Alevitische Kulturverein in Vorarlberg“ sein 20. Entstehungsjahr. All diese Vereine sind Zweigstellen der Föderation.
Handlungsfelder
Partizipation – Gleichbehandlung – Inklusion
Mit diesem Dreiklang stellt sich die Föderation der Frei-Aleviten Österreich den Herausforderungen eines grundlegenden und weitreichenden Wandels hin zu einer inklusiven Gesellschaft in Österreich, die weit über „Integration“ im herkömmlichen Sinne geht. Inklusion ist nicht nur Ausdruck einer Vision von einer Gesellschaft, die es in Anerkennung der Gleichheit und Verschiedenheit der Menschen erst gar nicht zu Ausgrenzung kommen lässt, sondern ein Menschenrecht, das selbstverständlich für Alle gilt.
Erinnerung – Gedenken – Verantwortung
In Erinnerung an die Opfer der zum Teil staatlich organisierten und/oder geduldeten Verbrechen an Alevitinnen und Aleviten pflegt die Föderation der Frei-Aleviten Österreich mit ihrem fortdauernden Engagement für die „Vergegenwärtigung des Vergangenen“ öffentlich das Andenken. Sie setzt ein Zeichen gegen das Vergessen, gegen die Relativierung und Verharmlosung von (staatlichen) Gewaltverbrechen, gegen das Fortbestehen rechter, nationalistischer und islamistischer Ideologien und Aktivitäten im Alltag und Gesellschaft.
Informieren – Handeln – Verändern
An der von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gleichermaßen verurteilten Staatspolitik der Türkei gegenüber religiösen und ethnischen Gemeinschaften hat sich bis heute nichts verändert. Die Föderation der Frei-Aleviten Österreich engagiert sich für den Schutz von religiösen und ethnischen Gemeinschaften und wirbt politisch und in der Öffentlichkeit für deren Rechte.
Humanismus – Freiheit – Demokratie
Die Föderation der Frei-Aleviten Österreich steht für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie. Sie verteidigt die Werte der Aufklärung und des Humanismus. Gegenseitige Achtung, Akzeptanz und Toleranz sind ebenso Grundlage des gemeinsamen Handelns wie die Achtung der Menschenrechte, die Unverletzlichkeit der Würde des Menschen und die Achtung des religiösen Bekenntnisses des jeweils Anderen.